Hessisch Oldendorf
1933 - Als die Nazis ihre Gegner in "Schutzhaft" schickten
SPD-Mann Fritz Falke hinterlässt Aufzeichnungen
Als ich am Sonnabend, den 8. April 1933 zum Bahnhof gehen wollte, wurde ich an der Ecke bei Zarges laut angerufen … Auf einen nochmaligen Anruf drehe ich mich um und sehe an der Ecke bei Dr. Heinrichs einen Landjägermeister [Polizeibeamter] und einen SS-Mann kommen. Es war der Landjägermeister Schönfeld aus Rumbeck und der Sohn des Klempnermeisters Peter. Herr Schönfeld fragte, ob ich Herr Falke sei? Als ich bejaht hatte, erklärte er, mich im Auftrage der Reichsregierung in Schutzhaft nehmen zu müssen.
So beginnen die Erinnerungen des damals 44-jährigen Oldendorfers Friedrich Falke, die sein Enkel Thomas Falke aufbewahrt hat und jetzt dem Landesarchiv in Bückeburg übergeben wird.
„Fritz“ Falke ist damals Beamter bei der AOK Rinteln und SPD-Mitglied. Mindestens seit der Kommunalwahl 1929 gehört er mit Heinrich Kagelmann, Gerhard Meier und Wilhelm Mucke zu den Sozialdemokraten im Oldendorfer Stadtrat, der damals „Bürgervorsteher-Kollegium“ heißt.
Auch in der Gemeindewahl vom 14. März 1933 wird er neben Mucke und Kagelmann wieder zum Bürgervorsteher gewählt. Nun waren in das 12-köpfige Stadtparlament zum ersten Mal auch Nationalsozialisten gewählt worden, und zwar 6. Dazu 3 Abgeordnete der „Unpolitischen Liste“ und die genannten 3 Sozialdemokraten. „Also 6 zu 6, das ist ja nicht so schlimm“, soll der parteilose Bürgermeister Blancke gesagt haben. Damit irrte er gründlich, denn bei diesem Zahlenverhältnis sollte es nicht bleiben.
Schaumbg. Ztg. v. 14. März 1933
Seit der Machtübergabe an Hitler am 30. Januar hatte sich in Deutschland viel verändert.
Reichspräsident von Hindenburg unterschrieb nach dem Reichstagsbrand Ende Februar eine Notverordnung1), mit der die verfassungsmäßig verbrieften Rechte auf
- persönliche Freiheit
- freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit
- Vereins- und Versammlungsfreiheit
- Brief- und Fernsprechgeheimnis
- Schutz der Wohnung vor Hausdurchsuchungen
- Schutz des Eigentums vor Beschlagnahme
aufgehoben wurden.
Aber schon seit Anfang Februar ist es durch eine Notverordnung2) den Behörden leicht gemacht
- politische Versammlungen zu untersagen oder aufzulösen
- Zeitschriften, Zeitungen, Plakate, Flugblätter usw. zu beschlagnahmen, zu verbieten und ihren Besitz unter Strafe zu stellen
- Lokale zu schließen
und vor allem:
- Personen „im Interesse der öffentlichen Sicherheit in polizeiliche Haft“ zu nehmen.
Alle diese Maßnahmen und Eingriffe dienen praktisch ausschließlich der Unterdrückung der KPD und der SPD.
Ebenfalls seit Ende Februar sind auf Anordnung des neuen kommissarischen Innenministers Hermann Göring in Preußen 40.000 SA- und SS-Männer zu Hilfspolizisten gemacht worden.
Wir dürfen annehmen, dass der von Fritz Falke erwähnte SS-Mann Peter ein solcher „Hilfspolizist“ war.
So können die Nazis ihre politischen Gegner, mit denen sie sich noch vor kurzem so manche Straßenschlacht geliefert hatten, auf allen Ebenen bekämpfen, terrorisieren und ausschalten.
Die KPD ist bereits verboten, die SPD noch nicht, aber ihre Zeitung „Vorwärts“. Die ersten „Konzentrationslager“ sind eröffnet, und seit dem „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März beschließt die Regierung ihre Gesetze allein, ohne Parlament. Die Demokratie im Reich ist abgeschafft.
Das ist der Stand der Dinge, als Fritz Falke aufgrund der erwähnten Notverordnung vom Polizeibeamten in „Schutzhaft“ genommen wird.
Auf meinen Einwand: “Aber nicht ohne Haftbefehl“, antwortete er, seien Sie ohne Sorge, es wird nichts Ungesetzliches vorgenommen.
Es war nicht ungesetzlich, denn Hitler war völlig legal Reichskanzler geworden, und die Notverordnungen waren nach § 48 verfassungsgemäß vom Reichspräsidenten erlassen.
Der „Schutzhaftbefehl“, den der Landjäger übergab, war vom Rintelner Landrat Moewes unterschrieben:
Quelle: Thomas Falke, Hess. Oldendorf
Das bedeutet nicht, dass der Landrat dessen Urheber war. Im Hinblick auf den bürgerlich-konservativen Moewes, der kein Nationalsozialist, sondern noch Beamter des „alten Systems“ war und im März 1934 seinen Posten verlieren wird - ist das eher unwahrscheinlich. In der Grafschaft Schaumburg wurden viele Schutzhaftbefehle vom NSDAP-Kreisleiter Reineking in Rinteln beantragt, der für seine „wilde Schutzhaftpolitik“3) bekannt war. Dem Landrat, der dann die juristische Verantwortung trug, wurden sie zur Unterschrift vorgelegt, wobei Druck und Einschüchterung auf der Hand lagen (vgl. dazu den Schutzhaftbefehl für den Oldendorfer Stuhlfabrikanten Brautlecht im Artikel über den Bürgermeister Blancke auf dieser Webseite).
Was wird dem Sozialdemokraten Falke vorgeworfen?
Der Haftbefehl spricht von den §§ 81, 82, 85, 86 Reichsstrafgesetzbuch.
Wesentlich ist hier § 81, denn die anderen beziehen sich auf ihn, und dieser beschreibt den „Hochverrat“. Dabei geht es im Kern um den Versuch, die „Verfassung des Deutschen Reiches oder eines Bundesstaates … gewaltsam zu ändern“. Das wird mit bis zu lebenslänglicher Freiheitssstrafe belegt.
Natürlich wird eine ernst zu nehmende, konkrete Begründung weder im Moment noch später jemals genannt.
Fritz Falke macht den Landjägermeister korrekter Weise
darauf aufmerksam, dass ich Vollziehungsbeamter der Allg. Ortskrankenkasse in Rinteln sei und Geld und nicht zu ersetzende Akten bei mir habe. Ich ersuchte ihn, mir in meine Wohnung zu folgen, damit ich meiner Frau alles ordnungsgemäss übergeben könne. Er folgte mir dann und ich übergab Geld und die Aktentasche meiner Frau mit der Bitte, die Krankenkasse sofort um 7 Uhr anzurufen und die Abholung der Sachen zu verlangen.
Anschließend wird er zum Rathaus geleitet.
Nachdem noch elf weitere Schutzhäftlinge gebracht waren, erfolgte gegen 9 Uhr der Abtransport im Kahlerschen Wurstauto zum Amtsgerichtsgefängnis in Rinteln.
Offenbar gab es für 12 Personen kein anderes Transportmittel in Oldendorf als den Lieferwagen von Schlachtermeister Kahler.
Wer waren die anderen Häftlinge? Es hat sich eine Liste erhalten, die den Vermerk „Liste der politischen Häftlinge. Pol. Mitteilungen u. Anfragen v. 23.5.33“ trägt und von der Stadtverwaltung auf Anforderung einer übergeordneten Behörde erstellt zu sein scheint.
Quelle: NLA BU Dep. 59 Nr. 4474
Die Liste bestätigt Falkes Angabe, dass es 12 Personen waren, die am 8. April 1933 in Oldendorf in Schutzhaft genommen wurden. Fünf Verhaftungen waren schon am 23. März sowie am 2. und 4. April erfolgt.
An erster Stelle steht der jüdische Viehhändler Adolf Löwenstein, Mitglied der angesehenen Familie Löwenstein in der Langen Straße. Allein schon dessen Verhaftung zeigt die Absurdität des „Hochverrat“-Vorwurfes.
Drei weitere sind nicht politisch gekennzeichnet. Fünf sind Mitglieder der KPD, sieben Mitglieder der SPD, einer Mitglied der „Roten Hilfe“, einer KPD-nahen Organisation, in der auch Sozialdemokraten mitwirkten. Somit sind 13 der 17 Verhafteten ausgewiesene Sozialdemokraten oder Kommunisten. Neben den genannten SPD-Bürgervorstehern Falke und Mucke wäre dann der dritte SPD-Bürgervorsteher Heinrich Kagelmann zu erwarten gewesen. Statt dessen steht sein jüngerer Bruder Rudolf auf der Liste. Entweder liegt ein Irrtum vor (dagegen spricht aber das richtige Geburtsjahr4)) oder ein besonderer Grund. Das bleibt unklar.
Fritz Falke war der zweitälteste, der älteste Häftling war der 45-jährige Albert Wicky, der jüngste mit 21 Jahren der Kellner Helmut Majer.
Drei Tage später, am 11. April, tritt im Oldendorfer Ratskeller die neu gewählte Stadtverordnetenversammlung zusammen. Der nationalsozialistische Justizinspektor Neitzke fertigt als Schriftführer das Protokoll der Sitzung an4a), ein Dokument, das von Unsachlichkeit und trunkener Begeisterung strotzt. Die theatralische Überschrift lautet:
Geschehen zu Hessisch-Oldendorf am 11. April des Jahres
1933 - eintausendneunhundertdreiunddreißig.
Während die Ausschmückung des Saales (Hindenburgbild, Hitlerbild, Schwarz-weiß-rote Fahne, Hakenkreuzfahne) die Illusion aufrecht erhält, die neue Regierung sei ein gleichberechtigtes Bündnis zwischen dem deutsch-nationalen Konservatismus und der Hitler-Bewegung, demonstrieren die Nazis ihren Machtwillen eindrücklich und einschüchternd:
Feierliche und ernste Stille lag über dem Saal, als um
19.30 Uhr die erwählten Bürgervorsteher, umgeben von der
aus 40 Mann bestehenden Abteilung SS, den Saal be-
traten. Soweit die Bürgervorsteher der NSDAP angehörten,
waren sie angetan mit dem Ehrenkleid Adolf Hitlers.
Wir sehen hier im Kleinen eine prinzipiell ähnliche Inszenierung wie knapp drei Wochen zuvor im großen Berliner Reichstag, als SA- und SS-Truppen die Abgeordneten im Plenum umstanden, die über das Ermächtigungsgesetz abstimmten.
Der Gipfel an Schamlosigkeit ist der nächste Satz:
Die erwählten und eingeladenen 3 Bürgervorsteher
der Sozialdemokratischen Partei waren nicht erschienen.
Falke und Mucke sind in Haft sowie (wahrscheinlich) Heinrich Kagelmanns Bruder. In der Zeitung stand schon vor drei Tagen („hier“ = Rinteln):
Schaumbg. Ztg. v. 8. April 1933
Nach dem Wahlergebnis (siehe Abbildung 1 oben) hätten den gewählten 6 Nationalsozialisten nun 3 Sozialdemokraten und 3 „Unpolitische“ gegenüber sitzen müssen. Aber weil die Sozialdemokraten fehlen und Schuhfabrikant Krückemeyer sowie Postschaffner Zaag inzwischen zur NSDAP übergetreten sind (man beachte das „P.G.“ hinter den Namen), bleibt als einziger Nicht-Nazi der Landwirt Karl Pape. Dazu kommt, aus unklaren Gründen, als 10. Mitglied der Nationalsozialist Schramme. Die Liste der gewählten Bürgervorsteher zeigt also nicht „6 zu 6“, wie Bürgermeister Blancke optimistisch gemeint hatte, sondern 9 zu 1:
Im Rintelner Amtsgerichtsgefängnis, so notiert Falke,
erfolgte die Unterbringung in den Zellen der Untersuchungsgefangenen. Die Türen der Zellen wurden am Tage offen gelassen. Somit konnte man von einer Zelle zur anderen gehen. Dieses wurde im Gegensatz zu Hameln als grosse Erleichterung empfunden. Auch im Hofe, der selbstverständlich mit einer ungefähr 4 Meter hohen Mauer umgeben war, durften wir den ganzen Tag spazieren gehen.
Die Bemerkung über Hameln zeigt, dass es - vielleicht durch Mithäftlinge - Informationen über die dortigen Verhältnisse gab.
In seinem Buch „Rinteln unterm Hakenkreuz“5) bestätigt Kurt Klaus, dass die SPD-Mitglieder im Gefängnis des Amtsgerichtes untergebracht waren, aber die Kommunisten in der „Wanderarbeitsstätte in der Lemgoer Straße“. Zudem zitiert er eine „Liste der seit dem 28. Februar in Schutzhaft genommenen oder noch befindlichen Personen“ (S. 45) mit 53 Personen - darunter auch „Falke“ als einziger Oldendorfer - und ergänzt, dass 27 davon
im KZ Moringen … einer im KZ Papenburg, die anderen im Zuchthaus Hameln oder im Amtsgericht Rinteln
einsaßen.
Das KZ Moringen, das ab August 1933 von der SS übernommen6) und zu einem Ort des Schreckens gemacht wurde, stand zu dieser Zeit noch unter polizeilicher Leitung. Informativ ist im Mai 1933 die Begründung eines Hungerstreikes, den Häftlinge ausriefen, die aus dem Polizeigefängnis Osnabrück kamen. In Osnabrück konnten sie angeblich
ihre Verpflegung selbst wählen … Sie wollen morgens Bohnenkaffee, Molkereibutter, Wurst und Brot erhalten haben, am Mittag: Fleisch, Kartoffeln, reichlich Gemüse und Salat, nachm.: Kaffee, Brot, Butter und Marmelade, abends: Tee oder Kakao mit Brot, Butter und Aufschnitt verschiedener Art. Sie behaupten, das zusammengekochte Essen hier nicht genießen zu können … In Osnabrück hätten sie in unverschlossener Zelle gelebt, hätten sich frei im Pol.Gefängnis bewegen … können.7)
Die angegebenen Osnabrücker Verhältnisse stimmen von der Tendenz her mit denen überein, die Falke über Rinteln schildert. Tatsächlich schreibt er weiter:
Die Verpflegung war gut, ebenso die Behandlung durch den Justizwachtmeister Herrn Hemme und den aushilfsweise angestellten Wärter Herrn Wassermeier. Besonderes Lob gebührt der Frau Hemme für die tadellose Zubereitung aller Speisen und ihr bereitwilliges Eingehen und Erfüllen unserer kleinen Wünsche.
Allerdings ist nicht ganz sicher, ob sich das „unserer“ auf a l l e (Oldendorfer) Schutzhäftlinge erstreckt oder ob Unterschiede zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten gemacht wurden.
Der genannte Wassermeier findet auch bei Klaus Erwähnung: „Der Nationalsozialist Wasssermeier führte im Amtsgericht die Aufsicht“.(S. 43)
Das Foto (Klaus, S. 46) zeigt „Die inhaftierten SPD-Mitglieder März 1933“. Es dürfte sich um die Rintelner handeln.
Die geschilderten Schaumburger Zustände waren also weit entfernt von dem, was zur selben Zeit bekanntlich in Berlin geschah, wo Schutzhäftlinge in SA-Kellern gefoltert wurden.8)
Als Falke eine Zahnentzündung erleidet, bekommt er eine ordnungsgemäße Krankenbehandlung:
Da ich mir nicht klar war, ob ich Fieber hatte, bat ich Herrn Wassermeier, doch ein Fieberthermometer zu besorgen.
Der nationalsozialistische Wärter verhält sich anständig.
Die Messung ergab 41,5 ?! Herr Wassermeier rief dann sofort das Kreiskrankenhaus an und brachte mir den Bescheid, dass der Arzt sofort kommen würde …
Von den freiwilligen Sanitätern auf der fahrbaren Tragbahre zum Krankenhaus geschafft, war meine erste Frage: Schwester, wo komme ich hin? Zu meiner Beruhigung erhielt ich die Antwort, Sie kommen auf Zimmer 10 (also nicht im Keller, wie Andere vor und nach mir). Von Herrn Dr. Köller, der kurz darauf kam, wurde festgestellt, dass es sich um ein Zahngeschwür handele, welches sofort geschnitten werden müsse. Er nahm den Eingriff sofort vor, worauf ich bedeutende Linderung verspürte. Am Dienstag, den 18. April wurden dann die das Geschwür veranlassenden, schadhaften Zähne in Narkose entfernt.
Auch im Krankenhaus war die Behandlung gut, desgleichen die Verpflegung. Am Sonnabend, den 22. April wurde ich dann unter polizeilichem Schutz wieder im Amtsgericht eingeliefert.
Eine Woche später, am 29. April, kommt aus Oldendorf der politische Gegner zu Besuch. Es sind die NS-Parteigenossen Jenner, (noch) Ortsgruppenleiter, und Schramme, ehemaliger Ortsgruppenleiter. Sie wollen ihren noch einsitzenden fehlgeleiteten Mitbürgern den rechten Weg zeigen,
wie wir aus der Schutzhaft entlassen werden könnten.
Schramme redete uns mit „Volksgenossen“ an und betonte, dass sie allen bestehenden Hass überbrücken wollten. Aus diesem Grund seien sie zu uns gekommen und schlügen uns vor, folgende Erklärung zu unterschreiben und diese Herrn Schramme zur Befürwortung und Weiterleitung an die Kreisleitung der N.S.D.A.P. einzusenden:
„Die Endesunterzeichneten versprechen, nicht gegen den nationalen Staat zu arbeiten und erklären, nicht im Besitze von Waffen zu sein.“ (Unterschriften: Kagelmann, Mucke, Wicky, Schröder u. Falke.)
Zu bemerken ist die Einbeziehung des Kommunisten Wicky, der also n i c h t anderenorts untergebracht ist und sich auch als „Volksgenosse“ angesprochen sieht.
Die erwähnte Absicht - „Befürwortung und Weiterleitung an die Kreisleitung der NDSAP“ - gibt einen Hinweis auf den eigentlichen Urheber des Schutzhaftbefehls: entweder Kreisleiter Reineking oder höhere Stellen der Partei.
Dementsprechend:
Auf unsere Frage, wer Schuld an den Verhaftungen sei, erklärten beide, Oldendorf sei schuldlos, die Verhaftungen seien von oben angeordnet.
Falke und Genossen wagen noch, auch für die Haftentlassung des Juden Adolf Löwenstein einzutreten, erhalten aber zur Antwort:
die Judenfrage sei eine Frage für sich, die im Grossen ihre Erledigung fände.
Eine Formulierung, die in Anbetracht des Fortganges der Geschichte schaudern macht. Wie wurde sie wohl verstanden? Jedenfalls war für jeden deutlich, dass die Juden für die Nazis keine „Volksgenossen“ waren.
Danach verabschiedeten sich beide durch Handschlag und sagten, dass wir damit rechnen könnten, am kommenden Dienstag oder Mittwoch (2. oder 3.5.33) frei zu sein.
Die abgepresste Erklärung ist nicht die einzige, die Falke unterschreibt. Er erwähnt die andere nicht, aber sie hat sich erhalten, und das Datum vom selben Tag legt nahe, dass Jenner und Schramme sie mitbrachten: Falke verzichtet auf sein demokratisch erlangtes Mandat als Bürgervorsteher.
Quelle: Thomas Falke, H.O.
Diese „freiwilligen“ Rücktritte von SPD-Mandatsträgern sind damals in ganz Deutschland an der Tagesordnung. Ein Beispiel aus dem Landkreis:
Schaumburger Zeitung v. 11. April 1933
Die Freilassung erfolgt dann am 4. Mai.
Aber damit ist die Angelegenheit für den AOK-Beamten Falke nicht erledigt. Er wird seine Arbeit verlieren.
Am nächsten Tag schon wird er durch den Vertreter seines Dienstherrn, Kreissekretär Rehmert, beurlaubt. Nach zehn Tagen tritt er seinen Dienst vorübergehend wieder an. Niemand kann ihm sagen,
ob meine Einstellung nun wieder fest sei. Herr R. sagte mir dann später, dass eine Rückfrage beim Bürgermeisteramt in Hess.-Oldendorf gemacht sei, dessen Ergebnis abgewartet werden müsse, er hoffe aber das Beste. Die Fragebogen würden in den nächsten Tagen den Einzelnen zugestellt …
Am Mittwoch, den 17.5.33 erhielten alle Angestellten der O.K.K. die Fragebogen zum Ausfüllen, die das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vorschreibt.
Dieses Gesetz v. 7. April 1933 erlaubte in § 4:
Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden.
Das galt natürlich für aktiv gewesene SPD-Mitglieder (und war übrigens auch ein existenzieller Druck für die konservativen, weder sozialdemokratisch noch nationalsozialistisch gesinnten Beamten, ihre „nationale“ Einstellung nun möglichst besonders deutlich zu machen!)
Der erwähnte Fragebogen erfasste die Vorbildung, die Abstammung aller Großeltern sowie frühere politische Aktivitäten:
Quelle: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=dra&datum=19330004&zoom=2&seite=00000253&ues=0&x=13&y=7
In der nun folgenden Zeit habe ich jeden Tag auf meine Entlassung gewartet. Gesprächsweise sagte Herr Rehmert einmal zu mir, dass er für mich noch keinen anderen habe. An einem anderen Tage meinte er, dass ich im Falle einer Entlassung die Angabe des Grundes sowie die Namen der Personen verlangen könne, die meine Entlassung verlangten. Auf Grund dieses habe ich dann den Brief vom 22.9.33 an Herrn R. gerichtet …
Am 21.9.33 erhielt ich dann die vom 19.9.33 datierte sofortige Entlassung …
Am 22.9.33 habe ich mich dann an Herrn R. mit der Bitte gewandt, mir doch angeben zu wollen, wer meine Entlassung verlangt hätte. Antwort siehe Akte F.
Am 2.10.33 habe ich dann meine Beschwerde an das OVA Hannover geschickt. Siehe Akte F. Hierzu siehe Schriftwechsel mit dem Verband, Akte V.
Leider befinden sich diese Akten nicht im Nachlass von Friedrich Falke.
Die SPD-Genossen Kagelmann und Mucke übernahmen nach Kriegsende wieder politische Verantwortung in der Stadt Hessisch Oldendorf. Friedrich Falke starb im August 1943, drei Wochen, nachdem sein Sohn im Krieg gefallen war.
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Anmerkungen
1) Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat, v. 28.02.1933. https://de.wikisource.org/wiki/Reichstagsbrandverordnung
2) Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des deutschen Volkes, v. 04.02.1933. http://www.documentarchiv.de/ns/schutz-dt-vlk.html
3) G. Steinwascher: Machtergreifung, Widerstand und Verfolgung in Schaumburg. In: Nieders. Jahrbuch f. Landesgesch., Bd. 62, Hannover 1990, S. 36
4) Todesnachricht des „69“-jährigen in der SZ v. 05.04.1962
4a) Kopiert im ehemaligen StA Hessisch Oldendorf; heute gewiss im NLA Bückeburg unter "Dep. 59"
5) Kurt Klaus: Rinteln unterm Hakenkreuz, Rinteln 1989
6) Hans Hesse: Das frühe KZ Moringen, Moringen 2003
7) Hesse, S. 67
8) Siehe z.B.: http://www.spiegel.de/einestages/sa-gefaengnis-in-berlin-tempelhof-a-947170.html