Hessisch Oldendorf
Oldendorf unter der Schaumburg
Grab D1:
Ida Spanier, gestorben 1922.
Grab D2:
Alexander Spanier
Dr. Ludwig Spanier, beide gestorben 1928.
Das Handelshaus Lilienfeld war, wie berichtet, an den Schwiegersohn Wolfes übergegangen. Als dieser 1872 nach Hannover verzog, übernahm es der Kaufmann Hermann Abraham Spanier, der aus Rinteln kam, wo er Gemeindeältester gewesen war.
SZ, 02.01.1872
Spanier bot neben Textilien auch Bankgeschäfte an.
SZ 09.02.1872 u. 22.12.1900
Vom Ratskellerwirt Cordemann ist der Satz überliefert: „Das ganze Dorf Welsede wählt antisemitisch, aber das ganze Dorf Welsede kauft bei Spanier!“
Spanier dürfte ein harter Wettbewerber gewesen sein. Im folgenden Inserat wehrt sich (vermutlich) ein Konkurrent aus Rehren A.O. mit antisemitischer Färbung, indem er darauf hinweist, dass Spanier k e i n c h r i s t l i c h e r, sondern ein j ü d i s c h e r Geschäftsmann ist.
SZ, 15.02.1896
Nach dem Tod der Witwe Ida Spanier übernahm keiner der Söhne das Geschäft. Beide Zwillingsbrüder wurden sechs Jahre später hier neben ihrer Mutter begraben. Sie starben im selben Jahr, angeblich durch Freitod.
Ein in Berlin lebender Schwager namens Eichelgrün hinterlegte in der Stadtsparkasse Hessisch Oldendorf ein kleines Sitftungsvermögen mit der Bestimmung, dass aus den Erträgen die Gräber der Familie Spanier „aufs Beste mit Blumen“ geschmückt und gepflegt werden und die Überschüsse den Oldendorfer Armen zu gute kommen sollten.
Aus den Akten geht hervor, dass auch Hermann Abraham Spanier hier irgendwo sein Grab hat (vielleicht C12 oder C9), das zu Beginn der 30er Jahre noch einen Stein besaß.
Der Auftrag mit dem Blumenschmuck zeigt, dass die Oldendorfer Juden nicht der orthodoxen Glaubensrichtung angehörten, die auf Gräbern keinerlei Schmuck erlaubt.
Nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 hat der Bürgermeister Blancke bei der Gärtnerei Hennecke den Auftrag zur Pflege der Spanier-Gräber widerrufen.
Grab C1:
Hermann u. Charlotte Löwenstein,
gestorben 1927 bzw. 1934.
MIt dem jüdischen Vornamen „Hertz“ war Löwenstein im Jahre 1888 aus Steinbergen bei Rinteln zugezogen und als national gesinnter Mann sofort in den hiesigen Kyffhäuserbund eingetreten.
Auch dem Schützenverein trat er bei - und wurde Schützenkönig des Jahres 1899:
Schaumburger Zeitung v. 10.08.1899
Noch fünf weitere Oldendorfer Juden waren Mitglieder im vaterländisch-konservativen Kriegerverein.
In der NS-Zeit wurden sie natürlich allesamt ausgeschlossen.
Hermann Löwensteins Söhne Adolf, Julius und Max übernahmen das Viehhandelsgeschäft des Vaters und führten die Familie wirtschaftlich an die Spitze der jüdischen Gemeinde. Julius Löwenstein hatte auch den jüdischen Gemeindevorsitz inne. Aber er war in der heimischen Geschäftswelt so gut integriert und religiös so liberal, dass er an den Schlachtefesten seiner christlichen Bekannten teilnahm und dabei selbstverständlich Schweinefleisch aß.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges richteten die Löwensteins vor ihrem Haus an der Langen Straße eine vaterländische Feier aus. Ein Foto zeigt das Haus im Fahnenschmuck und Soldaten an einer gedeckten Kaffeetafel.
1914: Voll integriert im nationalen Hochgefühl.
Julius Löwenstein nimmt, wie fünf weitere jüdische Männer, am Krieg teil und wird anschließend Ortsvorsitzender des „Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten“. Die jährliche Versammlung findet im Ratskeller statt.
Bruder Ludwig Löwenstein erhält 1917 das Eiserne Kreuz.
(Heimatgrüße aus der Grafschaft Schaumburg Nr. 23/1917, S. 11 f.)
1931 inmitten seiner Kegelbrüder, allesamt Oldendorfer Geschäftsleute:
Julius Löwenstein, vorn, 2. von rechts.
Die nationale Einstellung der Löwensteins und ihr gesellschaftliches Ansehen bewahren sie natürlich nicht vor dem Rassenwahn der Nationalsozialisten, sondern machen sie wahrscheinlich erst recht zur Zielscheibe wütender Angriffe.
Im Jahr 1935 starten der Kreispropagandaleiter Koch und der Oldendorfer Sparkassenbeamte Rügge eine Hetzkampagne und behaupten, im Hause Löwenstein sei ein nichtjüdisches Mädchen vergewaltigt worden. Hetzplakate werden geklebt, eine Kundgebung auf dem Marktplatz wird veranstaltet und das Haus der Löwensteins angegriffen. Diese verlassen für einige Wochen die Stadt, um nicht gelyncht zu werden. Nur in der Kirchenchronik von Pastor Korff findet sich die Eintragung, dass die Aussagen des betroffenen Mädchens erlogen waren und das Untersuchungsverfahren eingestellt wurde.
Dieser Handzettel wurde bis nach Minden verbreitet.
(Abbildung: Ev. Kirchengemeinde Hess. Oldendorf, Kirchenchronik)
In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 war das Löwensteinsche Haus wieder ein Hauptschauplatz der Ausschreitungen. SS-Leute in Zivil und verhetzter Pöbel schreien herum, mit Stöcken werden Fensterscheiben eingeschlagen, man dringt gewaltsam ins Haus ein und entwendet Radios, Uhren und andere Wertsachen, verprügelt Adolf Löwenstein und zerrt die Hausherrin an den Haaren über das Straßenpflaster. Als eine zu Besuch anwesende ältere Verwandte einen Herzanfall erleidet und nach einem Arzt gerufen wird, schreien weibliche Volksgenossen, sie brauche nur einen Tierarzt und solle "verrecken".
Adolf Löwenstein wird verhaftet und für knapp zwei Monate ins KZ Buchenwald verschleppt. Lieselotte Blumenthal/Southam (s. Teil 4) erinnerte sich, dass er infolge schwerer Prügel gestorben sei. Sie wusste nichts von der KZ-Haft und glaubte an eine direkte Folge der Übergriffe in der Pogromnacht. Das Faktum der Haft macht aber plausibel, dass Adolf Löwenstein an den Folgen der Haft starb.
Geldverwaltungskarte des Häftlings Adolf Löwenstein im KL Buchenwald (Arolsen Archives)
Der 9. November 1938 ist der letzte Auslöser: Löwensteins verkaufen ihr Eigentum und flüchten 1939 zunächst nach England, wo sie mit ihrem 11jährigen Sohn Herman Otto wieder zusammentreffen, der im Rahmen des "Kindertransportes" schon dort Aufnahme gefunden hatte. Von da aus geht es über Montreal/Kanada in die USA.
Die Familie lässt sich in Nashville/Tennessee, nieder. Die Einbürgerungsanträge von Julius und Hedwig Löwenstein zeigen Gesichter, die erahnen lassen, welche Strapazen sie hinter sich haben und wie schwer, trotz der Rettung, die Situation ist.
Julius und Hedwig leben bis 1980 bzw. 1990.
Ihr Sohn Herman Otto wird in Nashville ein erfolgreicher Rechtsanwalt.
Seine Heimatstadt Hessisch Oldendorf besucht er noch einmal, als im Jahre 1988 an der Stelle des alten Judenfriedhofs am Nordwall ein Gedenkstein für die Oldendorfer Juden eingeweiht wird. Er erzählt für die Schaumburger Zeitung auch einiges über die Geschehnisse in der Pogromnacht 1938. Auch dem "Holocaus Memorial" der Jüdischen Gemeinde in Nashville hinterlässt er einen Bericht, der dort aufbewahrt wird und im Internet veröffentlicht ist. (http://nashvilleholocaustmemorial.org/eyewitness-accounts/)
Er stirbt 2005 und ist (als ehem. Sergeant der US-Armee) auf einem Militärfriedhof mit dem Davidstern bestattet:
(findagrave.com)
Grab D4 gehört
Jettchen Blumenthal,
gestorben 1934.
Hier sind wir bei den wirtschaftlich etwas „Kleineren Leuten“. Jettchen war die Ehefrau von Ferdinand Blumenthal. Auch er war ein Enkel des Baruch Blumenthal (A4) und verdiente seinen Lebensunterhalt als Ziegenbock-Halter und Ziegenschlachter. Das war eine wichtige Funktion in der Stadt, denn es gab viele Ziegenhalter, ja sogar einen Ziegenzuchtverein.
Nach einer jüngst (2020) gewonnenen Zeitzeugen-Erinnerung wurde er auch öfter ins Dorf Rumbeck eingeladen, und bei einem Essen sagte ein Dorfbewohner zu ihm: "Diu bist n'feinen Juden, du schasst nich hen noh Palestina" (Du bist ein feiner Jude, du sollst nicht hin nach Palästina) - Offenbar glaubte man, Juden würden nach Palästina abgeschoben. (S. Behnke in: Gemeindebrief Kirchspiel Fuhlen März 2020, S. 11)
Seine Grabhälfte ist leer, er starb im November 1939 in einem Krankenhaus in Hannover, wo er auch bestattet wurde. So entging er dem Schicksal seines Bruders Louis:
Louis Blumenthal als Landwehrsoldat 1916
(Foto beigebracht v. M. Gruber, Hess. Oldendorf)
Wohnhaus von Louis Blumenthal, Frau Jenny und Tochter Martha, ca. 1918. Vor der Haustür wahrscheinlich die etwa 4-Jährige Martha. (Copyright: Bildarchiv Marburg)
Als ehemaliger Weltkriegsteilnehmer war Louis Blumenthal selbstverständlich auch Mitglied im örtlichen Kyffhäuserbund, außerdem in der Freiwilligen Feuerwehr.
Er handelte mit Fellen, Altwaren und Altmetallen.
Es wird aber auch erzählt, er sei mit einem Bauchladen voller Haushaltswaren als Hausierer durch die umliegenden Dörfer gezogen. (S. Behnke, wie oben)
Weil dazu erinnert wird, er habe immer wieder gesagt "Ich hebbe doch nichts verbrochen", dürfte das ab Mitte der 30er Jahre stattgefunden haben, als kaum noch jemand wagte, das jüdische Handelshaus in der Langen Straße aufzusuchen.
Das selbstverständliche "Dazugehören" der Juden in der kleinstädtischen Gesellschaft wird am Beispiel von Louis Blumenthal durch eine Meldung der Schaumburger Zeitung vom Mai 1923 bestätigt, die ihn besonders würdigt:
... Herr Louis Blumenthal, der schon ca. 20 Jahre das Amt des Hornisten bei der hiesigen freiwillige Feuerwehr bekleidet hat, hat dieses besonderer Umstände halber abgegeben. Er war stets ein eifriges und pünktliches Mitglied und hat schon manchen Brand mitgelöscht. Hoffen wir, daß Herr Blumenthal noch viele Jahre ein tüchtiger Feuerwehrmann bleibt.
Schaumburger Zeitung v. 14.05.1923
Das steht in derselben Zeitung, die ein Jahrzehnt später (unter demselben Schriftleiter Reinhold Börner) die bösartigsten antijüdischen Hetzartikel veröffentlichen wird.
Im April 1942 ist Louis Blumenthal kein Kriegervereins-Mitglied, kein Feuerwehrmann und kein Mitbürger mehr. Er wird mit Frau Jenny und Tochter Martha zum Bahnhof abgeführt und über Hannover ins Warschauer Getto deportiert.
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