Hessisch Oldendorf
Oldendorf unter der Schaumburg
Am 9. November 1938 kam es auch in Oldendorf zu Ausschreitungen organisierter Nazis und fanatischer „Volksgenossen“ gegen ihre jüdischen Mitbürger. Ziel des Angriffes war die seit Generationen in der Stadt lebende und hoch angesehene Familie Löwenstein, die in der Langen Straße Nr. 95 eine bekannte Viehhandlung betrieb. Julius Löwenstein war ein national eingestellter Mann, Ortsvorsitzender des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten und als Mitglied im Kegelverein „Pumpe“ mit vielen Oldendorfer Geschäftsleuten gut bekannt oder sogar befreundet.
1929 im Honoratioren-Kegelklub "Pumpe": Julius Löwenstein, vorne 2. v.l.
Der beleibte Herr neben ihm ist der Ratskellerwirt Rudolf Cordemann.
In den 1990er Jahren konnten noch einige Zeitzeugen darüber berichten, was am 9. November 1938 geschah.
Hervorzuheben ist der lange verstorbene Heinrich Krüger, viele Jahre Inhaber der traditionsreichen Baustoff-Firma.
Er war 1938 als junger SS-Mann dabei. Schon das machte ihn zu einem bemerkenswerten Zeitzeugen. Noch mehr aber seine spätere Aufarbeitung des Erlebten. Das Schicksal der Oldendorfer Juden, die er fast alle persönlich kannte, muss ihn jahrzehntelang beschäftigt haben, denn er sammelte seine eigenen Erinnerungen, Fotos und alles in Zeitungen veröffentlichte Material über die Oldendorfer, Rintelner und Hamelner Juden in einem Album.
In der Reichspogromnacht wurde die Oldendorfer SS alarmiert und marschierte zum Hause Löwenstein, um „Juda verrecke“ zu skandieren.
Krüger: „Ich war bedrückt, war doch der Julius Löwenstein mit meinem Vater im Kegelklub und oft bei uns gewesen.“
Ehemaliges Haus Löwenstein in den 1990er Jahren. (Tischlerei Rinne)
Dort war schon einiges geschehen. Die Straßenlaternen waren ausgeschossen und die Fenster eingeschlagen. Einige waren ins Haus eingedrungen und hatten die Wohnungen geplünderten. Krüger konnte sogar die Namen nennen!
Nach Berichten anderer Zeitzeugen waren dort SS-Leute aktiv, die sich vorher bei Bekannten Zivilkleidung ausgeliehen hatten. Nachbarn beobachteten, dass ein paar fanatisierte Oldendorfer Frauen - auch deren Namen wurden genannt - Frau Löwenstein an den Haaren aus dem Hause zerrten und „durch die dreckige Gosse“ schleiften.
Julius Löwensteins Schwester, die zufällig auf Besuch da war, bekam einen Herzanfall. Der Ruf nach einem Arzt wurde mit dem Geschrei beantwortet, es sei höchstens ein Tierarzt nötig: „Lass die Ische verrecken!“
Bruder Adolf Löwenstein wird schwer verprügelt, verhaftet und später ins KZ Buchenwald verbracht.
Löwensteins rufen bei Famlie David Blumenthal (Vieh- und Schuhhandlung) in der Langen Straße Nr. 25 an und warnen sie. Frau Lina Blumenthal steigt voller Angst aus dem Speisekammerfenster im Obergeschoss und klettert in ein Fenster des dicht daneben stehenden Nachbarhauses, wo sie von Frau Diekmann unter einer Zinkbadewanne versteckt wird. David Blumenthal und Sohn Erich laufen derweil nach Lachem. Ein befreundeter Landwirt fährt sie nach Hameln zum Bahnhof, und sie fahren mit dem Zug nach Bielefeld, wo sie Aufnahme bei Verwandten finden. Sie kehren nie wieder nach Oldendorf zurück.
Aus Heinrich Krügers Aufzeichnungen.
Heinrich Krüger sieht noch in der Nacht vom 9. auf den 10. November, wie am Westende der Langen Straße das Auto der Löwensteins mit Fahrer und laufendem Motor steht. Löwensteins kommen mit Koffern aus der Wallgasse, steigen ein und verlassen die Stadt für immer.
„Ich erzählte keinem Menschen … von meinem Erlebnis. Wie konnte ich den Freund meines Vaters verraten?“
Löwensteins finden später Zuflucht in den USA. Zehn Oldendorfer Juden werden Opfer des Holocaust. (Weitere Details im Artikel "Der Oldendorfer Friedhof und die Juden von Oldendorf".)
Gerettet:
Julius und Hedwig Löwenstein in den USA
Krüger:
„Noch heute, wenn ich am Stadtwall, Habermann bis Beissner, vorbei komme, muss ich an diese schreckliche Zeit denken.“
1988 erlebt er den Besuch von Hermann Löwenstein (Sohn von Julius L.) aus den USA und von Lieselotte (geb.) Blumenthal aus England in Oldendorf und fragt sich:
„Was geht in den Herzen dieser Menschen vor?“
Abbildungen: Dem Verf. von Heinrich Krüger sen. 1994 überlassen.
Quellen:
- Erik Hoffmann, Jüdische Nachbarn in Hessisch Oldendorf. Hameln 1998
- Erinnerungsalbum v. Heinrich Krüger sen., Privatbesitz des Verfassers.
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